Entdeckungsreise auf der inneren Landkarte

Wir alle haben eine "Vorgeschichte"...

Mit „Vorgeschichte" meine ich die Summe meiner Vergangenheit: meine Erfahrungen und Erlebnisse, also meine Entwicklung angefangen bei der Kindheit bis heute, die schließlich die Persönlichkeit hervorgebracht hat, die ich heute bin. Dazu zählen familiäre und gesellschaftliche Voraussetzungen und Prägungen, Erfahrungen und Wertmaßstäbe meiner Eltern, Konditionierungen, nicht hinterfragte Normen, meine Reaktionen und Haltungen auf eigene Erfahrungen, meine daraus entwickelten Wertvorstellungen, Glaubenshaltungen, Prinzipien, No-Gos...

Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich meine Vorgeschichte kenne, denn ich war ja dabei und kann mich zurückerinnern. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die ein Erlebnis MIT mir teilen, also einen objektiv gleichen Sachverhalt miterlebt haben, diesen seltsamerweise völlig anders wiedergeben. So unterscheidet sich meine Darstellung eines Ereignisses und die anderer oft allein schon durch den Zeitpunkt des Geschehens, bei dem man sich nicht einig ist. Auch sind Details wie Jahreszeit, beteiligte Personen oder Kleidung nicht identisch. Inhalt und Tonlage von Gesprächen werden völlig unterschiedlich wiedergegeben.

Besonders die Stimmung, die Atmosphäre, das Gefühl, das ein erinnertes Erlebnis bei mir hinterlassen hat, ist bei meiner (ehemaligen) Klassenkamaradin ein völlig anderes als bei mir selbst. Ist auch kein Wunder, denn sie stand ja damals zu Beginn der 5. Klasse nicht vor der riesigen Weltkarte, die mir eher wie die eines fremden Planeten erschien, und hatte keine Ahnung, wo welches Land mit welcher Hauptstadt zu finden ist. Hier verkündete mein Lehrer schon früh meine „Nichtbegabung“ für Erdkunde und so konnten sich meine Talentfreiheit und mein Desinteresse in Geografie während der verbleibenden acht Schuljahre völlig frei entwickeln!

 

Seltsamerweise kann auch die Wahrnehmungsposition verzerrt sein: Wenn ich mich an die Geschichte erinnere, als ich als Vierjährige auf einem Mäuerchen des Schwetzinger Schlossgartens herumtänzelte, bis ich schließlich das Gleichgewicht verlor und im Rosenbeet landete, sehe ich mich dissoziiert, d.h. ich falle nicht, sondern ich sehe mich von außen, wie ich mit meinem schicken geblümten mintgrünen 70er–Jahre Hosenanzug nach hinten ins Beet kippe.... Was sind nun meine eigenen Erinnerungen und was habe ich aus Erzählungen übernommen und als Bilder ergänzt?

 

Diese und andere Beobachtungen unterstützen die Annahme, dass meine Wahrnehmung der Erinnerung durch zahlreiche Filter von Glaubenssätzen, Überzeugungen und Vorannahmen gerieselt ist, bevor sie in meinem abrufbaren Bewusstsein landen konnte. Das heißt, auch ich bin zum Brillenträger geworden, denn eine unförmige, ungemütliche und dickglasige Brille ziert mein Antlitz: Diese besteht aus diversen Glaubenshaltungen, die im Laufe meiner Lebenszeit von familiären, sozialen oder gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen genährt wurden und mir nun so ziemlich den Blick zu vernebeln scheinen.

Die innere Landkarte

Was finde ich erstrebenswert für mein Leben?

Welche Werte sind mir persönlich wichtig?

Wonach bewerte ich mich selbst?

Wonach bewerte ich andere Menschen?

Welche Regeln habe ich für mich aufgestellt?

Welche Regeln gelten für den Umgang mit anderen Menschen?

Was erwarte ich von anderen Menschen?

Wie verhält „man“ sich? Was darf „man“, was tut „man“ nicht?

Was sind absolute No-Gos?

 

.......All dies ist verzeichnet auf unserer „inneren Landkarte“. Die innere Landkarte ist ein Begriff, der

im Systemischen Ansatz sowie im NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) verwendet wird. Diese innere Landkarte repräsentiert unser Modell der Wirklichkeit, das wir aufgrund der Wahrnehmung der Welt durch unsere verfügbaren Sinne nach und nach erbaut haben. Unsere Landkarte gestaltet sich entsprechend der Erfahrungen mit unserer familiären, sozialen und kulturellen Umwelt. Es sind dort Regeln, Bewertungsmaßstäbe, Einstellungen, Werte, (Moral-)vorstellungen, Meinungen und entsprechende Denk,- Gefühls- und Verhaltensmuster abgebildet.

 

So haben Landkarten die Eigenschaft, dass sie die Wirklichkeit nicht real darstellen können, es wurden Verallgemeinerungen und Vereinfachungen vorgenommen. Je nach Art und Zweck der Landkarte werden bestimmte wichtige Aspekte abgebildet, während andere gar nicht erscheinen. So ähnlich ist es auf unserer inneren Landkarte: Unsere Wahrnehmung registriert das, was für uns bedeutend ist, d. h. was sich im Laufe unserer Sozialisation und Entwicklung bewährt und als nützlich herausgestellt hat, während andere Informationen herausgefiltert werden.

„Die Landkarte ist nicht das Gebiet“

Dieses Axiom des NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) bedeutet

  • dass unsere Wahrnehmung der Realität nicht die Realität ist
  • dass jeder Mensch eine andere Wahrnehmung der Realität hat
  •  dass jeder über eine sehr individuelle Landkarte verfügt und keiner sich auf der Landkarte eines Mitmenschen so einfach „einloggen“ kann 
  •  dass es zu Missverständnissen und Konflikten kommen kann, weil jeder davon ausgeht, dass seine Sicht der Welt die einzig existierende Sicht und damit die „richtige“ Sicht ist
  •  dass Menschen in ähnlichen Situationen unterschiedlich handeln
  • dass auf jeder Landkarte eine Menge an Glaubenssätzen und Überzeugungen abgebildet ist, die mitunter einschränkend und unfrei machen können
  • dass Veränderungen mit Unsicherheit und Ängsten einhergehen können, weil „das Neue“ (noch) nicht auf der Landkarte verzeichnet ist

Doch die gute Nachricht ist:

Unsere Landkarte hat sich nach und nach erweitert und ist somit jederzeit veränder- und erweiterbar!